Rebecca Waldecker - Professorin für Algebra
Big mathematics?


DFG-Projekt mit Volker Remmert (Wuppertal):

"Big Mathematics? Die Klassifikation der endlichen einfachen Gruppen, ca. 1950 bis 1980."

Die Klassifikation der endlichen einfachen Gruppen (Classification of Finite Simple Groups, kurz CFSG), ist ein Höhepunkt in der Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert, sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf den langen und komplexen Prozess, der zu diesem Satz und seinem Beweis führte. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive bietet die CFSG eine hervorragende Gelegenheit, um allgemeinere Entwicklungen in der mathematischen Forschung im 20. Jahrhundert zu untersuchen, u.a. unter folgenden Gesichtspunkten:
  • Wie veränderte sich die Auffassungen davon, was als gültiger mathematischer Beweis angesehen wird?
  • Wie entwickelten sich Charakter und Kontext der Mathematik als internationale und generationenübergreifende kollaborative Disziplin?
  • Welche Rolle spielten und spielen Vertrauen und Konsens in der Disziplin?
  • Wie wirkten sich neue Formen der Forschungsförderung während des Kalten Krieges auf die Mathematik aus?
Wir sehen die CFSG als (möglicherweise) erstes Beispiel für etwas, das wir vorläufig als "big mathematics" bezeichnen möchten, und die kritische Diskussion dieses Konzepts gehört mit zum Projekt. Schätzungen zufolge erstreckt sich der erste Beweis für die CFSG auf 10.000 bis 15.000 Seiten in ca. 500 publizierten Artikeln, verfasst von insgesamt über 100 Mathematiker*innen. Bei näherer Betrachtung wird schnell klar, dass es so eine Gemeinschaftsarbeit vorher in der Mathematik nicht gab: die außerordentlich hohe Anzahl an beteiligten Wissenschaftler*innen, verstreut über mehrere Kontinente, die konzentrierte und zielgerichtete Zusammenarbeit im Zeitraum ca. 1950-1980, die Komplexität und Schwierigkeit der Fragestellung, das Aufkommen von Computern und ihr Einsatz beim Beweis der CFSG, Konsequenzen der neuen Methoden und kritische Diskussion innerhalb der Community, die Einflüsse des kalten Krieges auf die CFSG/reine Mathematik (z.B. über neue Formen der zivilen und militärischen Forschungsförderung).
Unser langfristiges Ziel ist eine gründliche wissenschaftshistorische Analyse der CFSG unter besonderer Berücksichtigung dessen, was wir an allgemeineren Erkenntnissen über die Entwicklung der mathematischen Forschung während des kalten Krieges gewinnen können. Wir erhoffen uns Erkenntnisse über den Einfluss der politischen Rahmenbedingungen auf mathematische Forschung, sogar in der sog. Reinen Mathematik, etwa über die Bereitstellung von finanzieller Förderung. Dies wurde bisher kaum erforscht, spielt für die CFSG aber eine wichtige Rolle. Die drei Hauptthemen der ersten Projektphase sind: eine kritische Diskussion des Konzepts "big mathematics", die Selbsthistorisierung der Gruppentheorie im Zusammenhang mit der CFSG und die Veränderung des Verständnisses dessen, was ein Beweis ist.

Ein wichtiger Bestandteil dieser ersten Forschungsphase ist der Aufbau eines physischen und virtuellen Archivs zur CFSG. Hier sammeln wir Korrespondenz, Manuskripte, Transkriptionen von Interviews und vieles mehr, was wir aus Nachlässen sammeln oder was uns Mitwirkende an der CFSG zur Verfügung stellen. Wir bedanken uns ausdrücklich bei allen, die zu dieser Sammlung beitragen.

Es gibt zahlreiche Teilprojekte und die Möglichkeit, mit einem HiWi-Vertrag mitzuarbeiten oder eine Qualifikationsarbeit zu schreiben, die zu diesem Forschungsprojekt gehört. Je nach Interesse und Vorwissen ist alles möglich von der Bachelorarbeit bis zum Promotionsprojekt!

Beispiele für HiWi-Tätigkeiten:
  • Datenanalyse und -veranschaulichung, etwa zu Netzwerken, zu inhaltlichen Entwicklungslinien oder zum Einsatz von Computern
  • Inhaltliche Vor- und Nachbereitung von Interviews
  • Transkriptionen, Digitalisierung von Unterlagen
  • Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung von Workshops und Konferenzen

Fragen dazu? Einfach Volker Remmert oder Rebecca Waldecker direkt kontaktieren.
Hier ist ein Programm am Isaac Newton Institute in Cambridge, an dem wir beteiligt sind.




Was schon passiert ist und woran wir gerade arbeiten:

Eine erste Publikation dazu wird der Buchbeitrag "Vom Gruppentheoriekolloquium 1954 bis zu "Bären mit Kindern und Kegeln", eine Einordnung der frühen Gruppentheorietagungen am MFO". Dieser ist hier im ArXiv zu finden.
In dem Beitrag geht es um die beginnende Tagungstradition am MFO, speziell in der Gruppentheorie, und die Dynamik hin zum Klassifikationsprojekt. Hier handelt es sich um einen Teilaspekt eines von Volker Remmert, Maria Remenyi und Norbert Schappacher geleiteten DFG-Projekts zur Erforschung der beginnenden Tagungstradition am Math. Forschungsinstitut Oberwolfach ungefähr im Zeitraum 1944-1960.

Seit Oktober 2021 läuft das erste Promotionsprojekt im Zusammenhang mit diesem Forschungsprojekt: Atle Höhne untersucht aus mathematikhistorischer Perspektive die Entdeckung der modernen sporadischen Gruppen. Weitere Qualifikationsarbeiten befassen sich mit Finanzierungsquellen, mit Netzwerken oder auch mit dem technischen/methodischen Stand der Gruppentheorie zu der Zeit, als die CFSG ernsthaft begonnen wurde.



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